Das blaue Licht
In Himmelpforten ging mal wieder die Welt unter. Das Gewitter war wirklich von beeindruckender Heftigkeit. Heute fahre ich mal früher, um vor 0:00 zuhause zu sein.
Die Nachrichten aus dem Radiowaren vielversprechend. Schweres Unwetter in Harburg, chaos, Stromausfall, zwei Tote durch den Sturz von Kränen. Wie üblich übertreibt die Zunft mal wieder. Bahnhof Stade: Die Zugbegleiterin, die sich pedantisch immer jede Fahrkarte anschaut, obwohl sie weiß, daß ich ein Jahresabo habe, fragt ob ich wirklich nach Hamburg fahren wolle. „Haben Sie nicht jemanden, bei dem Sie bleiben können?“ Mich durchzuckt „Martin“ und entscheide zu fahren: „So schlimm kann es nicht sein“. Der Zug kommt problemfrei in Neugraben an. Dort steht eine S-Bahn der Linie S1, die dort für gewöhnlich nicht steht. – Nicht einsteigen – wie üblich sprudelt das Personal vor Informationswut über. Auf meine Nachfrage wird bescheinigt, das bis Harburg-Rathaus gefahren wird, danach Schienenersatzverkehr wohl besteht.
Der S-Bahn-Kapitän steigt ein, fährt los. Keine Ansage – sehr zur Überraschung der drei Jugendlichen, die auf dem Bahnhof zurückbleiben. Ankunft in Harburg-Rathaus. Ein kleiner S-Bahn-Wachmann weist den Weg nach oben. Ich sprinte die Treppen hoch und bleibe überrascht stehen. Dunkelheit empfängt mich, nachdem ich den hellen U-Bahnschacht verlassen habe. Ich brauche einige Sekunden, ehe ich realisiere das alle Ampeln ausgefallen sind und alle Laternen und alle Wohnungen und Häuser nur spärlich oder garnicht erhellt sind, als herrsche Verdunkelung. Dann taucht die Welt in blaues Licht, gespenstisch in dunklen Schaufenstern reflektiert. Mindestens fünf Polizeiwagen erreichen die Kreuzung, ein sechster rast mit der üblichen Musik vorbei. Ich stehe auf einer dunklen Verkehrsinsel und schaue in alle Richtungen. Neben mir überqueren einige Personen mit Taschenlampen und grünen oder blauen Handleuchten die Straße. Ich fühle mich an Tiefseefische erinnert.
Ostentativ hält gegenüber ein Polizeiwagen und bleibt mit Blaulicht auf der Kreuzung stehen. Langsam bekomme ich den Eindruck unsere Fachkräfte für innere Sicherheit spielen Ghettounruhen. Gegenüber steht auch ein Bus – Schienenersatzverkehr. Ich eile auf ihn zu, aber der Fahrer nimmt keine Kenntnis von mir und fährt weiter. Es sind wenige Autos unterwegs, meist im Schrittempo. Immerwieder blitzt Fernlicht auf und eine winkende Gestalt vom Straßenrand wird aufgenommen.
Ich entdecke die vorgesehene Haltestelle, ein Häuflein versprengter Pendler hat sich dort eingefunden. In deren Rücken hat mit Notbeleuchtung ein Kiosk geöffnet, an dem eine Handvoll jugendlicher Mitbürger südländischer Herkunft lungern. Magisch ziehen sie jeden Polizeiwagen an. Als erstes einen großen Mannschaftswagen, in dem vorne zwei ernstblickende Bereitschaftspolizisten sitzen und hinten in lässiger Entschlossenheit weitere drei hochgerüstete Kollegen. Bedächtig rollt der Wagen am Kiosk vorbei. Austausch entschlossener Blicke. Wenig später rollt ein silberblauer Streifenwagen mit blinkenden Lichtern vorbei. Schaukelnd ruckelt er auf den Gehweg. Geöffnete Fenster, langer Blick von innen nach draußen. Zum Glück kennen alle Beteiligten die einschlägigen amerikanischen Filme. Souveräne Blicke der Polizisten werden von den Jugendlichen mit lässiger Lockerheit erwidert, gerade als seien sie zufällig hier dazugekommen. Ich spiele perfekt den verlorenen Pendler, der ergeben auf die Rettung durch die Verkehrsbetriebe wartet.