Schattenmacher
Seit Ferienbeginn sieht man andere Pendler. Neuerdings steigt in Bergedorf eine Frau zu, bei deren Eintritt die Sonne verdunkelt wird. Der Gang zwischen den Sitzreihen wird von ihr komplett belegt. Meist zwängt sie sich in den hinteren Wagenteil, in dem ich auch für gewöhnlich sitze. Ihre Handtasche oder ihr Rucksack bleibt regelmäßig in dem Durchgang stecken und mich befällt mehr und mehr die Sorge, daß der Ruck, mit dem sie sich befreit, sie eines Tages in die Reihe der Sitzenden trägt und den Tod über diese bringt.
Nicht minder gefährlich ist ihr Kaffeebecher, der bei der Befreiungsaktion gefährlich in ihrer Hand hin-und-herpendelt. Ich sehe die heiße Plörre eines Tages schon auf meinem Anzug landen. Heute hat die Landung wieder geklappt – gut 110 kg Lebendgewicht, verpackt in ein weites Oberteil, legginartige Hose und birkenstockartige Sandaletten haben sich neben eine zierliche Mitfünfzigerin gewuchtet. Nach der Landung muß sortiert werden, doch der Kaffeebecher in der rechten Hand stört. Kranartig schwenkt der Arm zum Müllbehälter, der als Tisch für die Morgenbrühe genutzt wird. Die zierliche Mitfünfzigerin entschwindet kurzzeitig meinem Blick, bis der rechte Arm wieder zurückschwenkt. ‘Gut das S-Bahnen keine scharfe Kurvenfahrten durchführen’ fährt es mir mit Sorge um die zierliche Mitfahrererin durch den Kopf.
Mein Blick fällt auf die transparente Handtasche der Schattenmacherin. Eine Tüte Schokoladenkekse, die sofort mit dem Kaffee runtergespült wird, zwei Packungen Zigaretten (heute ist ja Freitag, muß man ja nicht solange auf ‘fe Arbeit sein) und ein Stundenplan. ‘Ist sie Lehrerin?’ durchzuckt es mich und vor meinem geistigen Auge taucht Frau Seidenberg, meine ehemalige Kunsterzieherin auf. Im Format meiner morgendlichen Begleiterin nicht unähnlich, sorgte ihr Unterricht in der fünften Klasse für einen ersten Sprung in meinem bis dahin durch die Grundschule geprägtem, makellosen Respekt vor Lehrern.
Mein Blick wandert wieder auf den Artikel über den Kauf von Sat1 durch die Springer AG und streift noch den stabilen, sympathischen Bild-Leser neben mir, der vorhin beim Einstieg in Bergedorf so freundlich die beiden Frauen vor sich zur Seite geschoben hat, um den Eckplatz zu ergattern. Aus welchem Grund wurde die Dinosaurier doch gleich so groß? Wegen des Hirn-Körper-Indexes oder zum Aussterben?